Risse im Eis

„Ich fahre nicht Auto, weil ich den anderen nicht traue, dass sie sich an Verkehrsregeln halten,“ sagte eine Freundin zu ihr, als sie sich über Vertrauen unterhielten. Während ihr Gegenüber ihr versicherte, niemandem zu trauen und antwortete sie, dass sie anderen fast immer vertraue. Sie hatte übersehen, dass sie dabei war, wie eine Statue inmitten eines Sees einzufrieren. Ihr Vertrauen war dabei sich zu wandeln. Ihre Erfahrungen sagten, traue anderen alles zu. In Wahrheit war es längst Misstrauen, das zurückgeblieben war, und kein Vertrauen. Eisregen umhüllte sie. Mit jeder Sekunde, jeder Minute und jedem Tag wurde die Schicht dicker und dicker. Sie wandelte sich zur Statue, eine Eisprinzessin. Sie vergaß sogar, dass sie sich nicht mehr bewegte. Vielleicht konnte sie sich einfach auch nicht mehr rühren, sie hatte es vergessen.

Die größte Liebe ihres Lebens hatte alles dazu getan, dass sie nicht mehr vertraute. Womit sie nicht rechnete, dass dadurch die Größe ihres Vertrauens, das sie in alles gesetzt hatte, schrumpfte. Es war keine enttäuschte Liebe und doch war es die größte Nähe zu einem anderen Menschen, die sie je empfunden hatte. Nein, sie wünschte ihm Gutes, immer schon das Beste, denn er hatte die Frau getroffen, mit der er Kinder haben wollte. Sie wußte, wie sehr er sich diese wünschte, und sie selbst konnte keine bekommen. Drei Jahre brauchte es, bis sie seine Anfeindungen nicht mehr aushielt und sie nichts als Abstand von ihm suchte. Er lachte und meinte, er kenne sie, das wäre alles nicht so tragisch. Trotzdem begann er zu toben: „Du bist mir zu nahe gekommen.“ und brüllte: „Ich schulde dir nichts!“ Und sie verstand nichts. Sie hatte keine Ahnung, wovon er sprach. Sie brach den Kontakt zu ihm ab, jedoch nicht zu seiner Frau. Es zählte nicht mehr, was er wollte, relevant war, was seine Frau wünschte. Sie war ihr ans Herz gewachsen und deshalb wollte sie nicht, dass sie aus ihrem Leben verschwindet. Doch Angst war zurückgeblieben. Sie hatte Angst, auch sie zu verlieren. Jeder Glaube war gegangen, alles Zutrauen war verloren, dass liebevolle Gedanken, liebevolles Handeln alles heilen könnte. Sie bekam Angst vor anderen. Sein Gesicht hatte sich für sie zu einer absurden Fratze verwandelt.Nichts war von der unglaublichen Liebe übrig geblieben, die sie für ihn empfunden hatte. Nie zuvor hatten ihre Gefühle sich so gewandelt. Er war der Erste, der so viel Kälte hinterließ. Mit der Entscheidung auf Distanz zu ihm zu gehen, ging sie auch mit dem Rest der Welt auf Distanz. Sie konnte ihn lachen hören. Er wußte, er hatte sie besiegt. Sie war nicht mehr reinen Herzens, sie sah nur mehr die Schmerzen, die er anderen gebracht hatte, ihre waren nicht die Schlimmsten. Sie begann zu erstarren.

Zur gleichen Zeit schrieb ihr eine andere Freundin, Dinge, die sie auch nicht verstand. Diese wollte sie wütend sehen. Auch sie meinte, sie zu kennen. Sie hatte keine Ahnung, wie viel Panik in ihr auftauchte, wenn Wut in ihr wuchs. Sie hatte Todesangst. Sie hatte nie gelernt, dass jemand sie trotzdem mochte, auch wenn sie schlecht aufgelegt war. Im Gegenteil, wenn es ihr schlecht ging, hatte sie sehen müssen, dass sie immer noch eins drüber bekam. Sie lernte alleine zu überleben. Die Frage nach ihrer Authentizität war nicht weniger verstörend. Am Schlimmsten war der Verlust von Menschen, die sie liebt, selbst wenn sie ihr nicht zur Seite standen. Ihr Vater war gegangen und ihre Mutter begann den Verstand zu verlieren. Die andere versprach ihr, immer eine Freundin zu bleiben. Sie waren schon so lange befreundet, dass sei durch nichts zu zerstören. Also stellte sie sich diesen Ängsten in einer Therapie und durchlebte Panikattacken, bei denen sie zu atmen aufhörte. Tot wollte sie sein. So war das Gefühl, sich in Luft aufzulösen. Sie hörte auf zu existieren. Ihr Gegenüber sah sie nicht, sah nicht ihre Verzweiflung. Wenn sie aufhörte zu atmen, breitete sich Ruhe aus. Manchmal blieb sie aber nach dieser Stille verstört zurück, denn da war auch Sehnsucht. Deshalb wagte sie die Therapie. Sie sollte doch wahrhaftig sein, meinte die Freundin. Sie streifte jede Furcht ab und versuchte so offen und ehrlich zu sein, wie es ihr nur möglich war und ihre Freundin es wünschte, und dann, dann flippte ihre Freundin aus und sprach nicht mehr mit ihr. Was für eine absurde Erfahrung, sich seiner größten Angst zu stellen und es passiert genau das, was sie sich in ihren schlimmsten Alpträumen vorgestellt hatte. Nur langsam hatte sie gelernte auf ihre Bedürfnisse zu achten, sich ihren Ängsten zu stellen, ihre Grenzen zu setzen und ihre Freundin reagierte  mit Schweigen. Sie wurde Luft. 3 Jahre lang. Als die Andere sich wieder meldete, fragte sie, warum sie sie damit strafte: „Dieses Umdichschlagen, hemmungslose Dich-Zulassen hat irgendwann einen Grad erreicht, wo ich mir dann ernsthaft dachte, du hast nicht mehr alle Tassen im Schrank. Ich konnte nicht mehr sagen, bist das noch du oder eine psychische Störung?“

Ihr Vertrauen war perdue. Sie ließ niemanden mehr heran.

Nachdem Tod ihrer Mutter verging ein Jahr und sie spürte die ersten Sprünge im Eis, es begann zu tauen.