Ich schäme mich, wie Österreich Menschenrechte mit Füßen tritt

Alle Menschen sind frei und
gleich an Würde und Rechten geboren

 

68 Jahre wird die Allgemeine Deklaration der Menschenrechte heuer alt. Und gerade fühlt es sich an, als sei sie dem Kindergarten noch nicht entwachsen.

Nie dachte ich, dass ich in dem Land, in dem ich geboren bin, in dem ich aufgewachsen bin, in dem ich lebe, jemals zweifeln würde, ob ich diese Rechte, in dem Staat, in dem ich lebe, so in Frage stellen würde.

Wenn ich als Teenager in den 1970er Jahren Filme über die wohl beschämendste Zeit des 20. Jahrhunderts, zumindest hier in Europa für Menschen meiner Generation und jener vor mir, sah, hoffte ich, etwas derartiges nicht erleben zu müssen. Zumindest nicht in meinem Land, oder, wie ich damals dachte, in meinem Europa.

Ob dies das Töten unschuldiger Menschen oder das Beschämende Verhalten der anderen Ländern, die vielen die Flucht nicht ermöglichten, war. Hoffen, denn mir war klar: Nichts ist sicher. Zerschlagen. Wie zerbrechlich diese Menschenrechte auch in Demokratien sind, wollte ich nicht glauben. Doch heute geben rechte nationalistische Staaten die Linie vor. Zumindest hier in Österreich. Im Egoismus. Ich schäme mich.

Früher war es Nationalismus, heute schaut jeder, dass er das Seine ins Reine bringt. Nun treffen sich die Verteidigungsminister, um sich vor unbewaffneten Menschen zu schützen. Aber Geld für jene Länder, die diese Menschen über Jahre aufgenommen haben, hat man schlicht „vergessen“ zu zahlen. Nein, nicht vergessen, unser Budget gehört saniert, wir müssen das Defizit reduzieren, da können wir Menschen in Not nicht helfen. Geld wird für Zäune ausgegeben, nicht für Menschen. Und jenen, die halfen, werden verhöhnt, wenn ihre Spenden plötzlich dafür verwendet werden, um den Staat zu sanieren, den Organisationen, die einsprangen, als der Staat versagte, das gespendete Geld abzieht. Ich schäme mich.

Ich verstehe vieles nicht mehr. Trotz meiner Fragen und meines Nachlesen.

Ich weiß noch, wie ich mich vor 30 Jahren über das Milgram-Experiment unterhielt und mich Freunde betrachteten, als sei ich verrückt geworden, so ein Verhalten (von ihnen) für möglich zu halten. Wir legen heute keine Schalter um, wir hören auch keine Schreie, sehen keine Bilder, wenn wir nicht wollen, dem allen kann ich ausweichen, keine Nachrichten, schnell weiterblättern, bevor das Entsetzliche mein Herz erreicht. Warfen wir nicht genau dies den Menschen vor, die unter dem nationalsozialistischem Staat lebten? Dass sie von nichts wussten? Oder sehen und hören wir das alles und es berührt uns nicht? Es hat nichts mit uns zu tun? Genauso wenig wie der Nationalsozialismus mit unseren Eltern und Großeltern zu tun hatte. Ich schäme mich.

Ich habe nicht vergessen, ich habe die zahlreichen Kämpfe vergessen. Dass die Gleichheit in den USA länger eine Ungleichheit war. Ich habe nicht vergessen, dass Frauen lange nicht wählen durften, in Spanien und Portugal erst wieder nach dem Ende der Diktaturen in den 1970ern, in der Schweiz 1971und Liechtenstein als Schlusslicht Europas 1984. Wobei der Kanton Appenzell Innerrhoden nur durch die Verfassungswidrigkeit ihrer Kantonsverfassung 1990 gegen die Mehrheitsentscheidung der Männer das Frauenwahlrecht einführen „musste“, quasi gezwungen wurde. Gleich und gleicher. Früher war es nicht besser.

Viel zu wenig dachte ich darüber nach, dass meine Mutter damals die Erlaubnis meines Vaters brauchte, um arbeiten zu dürfen. Ich glaube, mein Vater wusste das nicht. Denn sie war es, die nach einer Krebserkrankung nicht mehr in der Nacht in eine Fabrik putzen gehen wollte, Putzen, weil sie die Fließbandarbeit noch viel weniger aushielt. Später war sie auch mal Garderobiere und putze auch wieder, das war das kleine Stückchen Freiheit, ein wenig eigenes Geld. So klein konnte Freiheit sein: ein wenig Taschengeld als Symbol für ein klein wenig Unabhängigkeit. Früher war es nicht besser.

Warum ich daran denke? Weil so viel von unseren Werten die Rede ist und mir die Fragilität dieser jetzt wieder bewusst wird. Wir haben Politiker, die von Werten sprechen. Doch von welchen Werten sprechen sie? Den Menschenrechten?

Alle Menschen sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander
im Geiste der Brüderlichkeit begegnen.

Klingt dies nicht wie Hohn? Geiste der Brüderlichkeit? Mir sind all jene unheimlich, die kleine Kinder anschreien: „Wir sind das Volk“, während diese ihre Worte nicht verstehen, nur Ungeheures hinter sich, Ungeheures vor sich sehen.

Christliche Werte? Weihnachten empfand ich zum ersten Mal sehr beschämend. Denn ich fragte mich, welchen Sinn es hat, dass wir von klein auf diese Geschichte hören und dann nicht erkennen, dass genau dies jetzt – und nicht vor 2000 Jahren – passiert.

Mir ist es nicht geheuer, wenn ich höre, wie Menschen heute und hier in Österreich andere anschnauzen, weil sie hören, dass sie sich mit jemand anderem nicht in ihrer Sprache unterhalten. So berichtete es Julya Rabinowich und nicht nur sie in einer Diskussion bei Kreuz und Quer. (http://tvthek.orf.at/program/Kreuz-Quer/8598576 Schade, dass dieses Gespräch nicht länger nachgeschaut werden kann, es gibt Momente da zweifle ich am öffentlich rechtlichen Rundfunk. Wozu zahle ich eine Gebühr, wenn ich es nicht schauen kann, wann ich will?) Mir läuft es kalt hinunter, wie ungeniert rassistische und nationalistische Äußerungen von sich gegeben werden.

Das sind die Menschen, die ich fürchte.

Jede andere Angst ist so gerechtfertigt, wie die Angst vor dem Ziegelstein, der mir auf den Kopf fallen könnte. Aber die aggressiven Nachbarn, Menschen in öffentlichen Verkehrsmittel, Gäste im Kaffeehaus, die sind da, sind ganz nah und wenn die so sprechen, habe ich Angst.

Wo lebe ich heute?

In einem Land, wo seit Jahrzehnten Öl ins Feuer geschüttet wurde, und als Ergebnis Menschen stolz Menschenverachtendes sagen können. Vorbei sind die Zeiten, wo Mitschüler den anderen als Nazi bezeichneten, wenn er rassistische Äußerungen von sich gab. Heute wird dann von Meinungsfreiheit gesprochen, die sich aber dann nur auf die eigene bezieht. Doch die Ruppigkeit zeigt sich auf allen Ebenen, von rechts und links. Ich mochte das nie. Aggression ist mir nicht geheuer.

Wo lebe ich heute?

In einem Land, wo nicht nur rechte, sehr rechte Parteien menschenverachtend sprechen, sondern Mainstream-Politiker diesen Populisten nachhecheln, anstatt stolz zu sein, diese Zeiten hinter sich gelassen zu haben. Wo es egal ist, dass die Wissenschaft schon längst festgestellt hat, dass es Rassen im naturwissenschaftlichen Sinn nicht gibt. Erschreckend genug, dass es rund 30% der österreichischen Bevölkerung ist, die in Unkenntnis des Parteiprogramms, jene wählen, die ihnen noch mehr nehmen wollen. 30% ist nicht die Mehrheit. Doch es sind nicht nur jene 30%, die nach dem Motto „Steter Tropfen höhlt den Stein“ herumpöbeln, Menschen in verachtender Weise anschnauzen, und schließlich bedrohen. Sie haben diesen Ton salonfähig gemacht.

Wo lebe ich heute?

In einem Land, wo jede kritische Äußerung egal in welche Richtung, selbst wenn sie nur zum Nachdenken anregen will, zerfetzt wird. Wie gehen wir heute miteinander um?

Sind das die Werte, die Flüchtlinge lernen sollen? Wenn Zäune errichtet werden, um Fluchtsuchende abzuwehren. Wir Österreicher, Europäer, die seit Jahrhunderten auswanderten, weil sie nichts zu essen hatten, ob dies Irland war oder das Burgenland. Heute, wo wir nicht mehr hungern, schimpfen wir auf jene, die kommen, weil sie Hunger haben. Mir macht das mehr Angst als alles andere. Ist es das, was jene, die Schutz suchen, von uns lernen sollen? Dieses Verhalten?

Ich fange nicht an aufzuzählen, mit wem wir Geschäfte machen, weil Schnaps Schnaps ist und Bier Bier. Mit Ländern, denen Menschenrechte egal sind, aber Geld haben. Ich spreche auch nicht von jenen Ländern, die wir als EU in Knüppelverträge zwingen à la TTIP und holländische Zwiebel nach Afrika exportiert werden und die dortigen Bauern ihre Produkte nicht mehr verkaufen können. Und wir wundern uns, dass sie zu uns aufbrechen? Ernsthaft? Werden wir von Vollidioten regiert? Ländern, die Menschenrechte nicht kennen, werden sichere Drittländer. Was sind uns die Menschenrechte wert? Ein Stück Kuchen am Sonntagnachmittag? So wie wir Europäer heute mit Menschenrechten umgehen, ist es das Papier nicht wert, auf dem sie stehen. Ich schäme mich.

Was bekomme ich von der EU mit? Aufmarsch im Mittelmeer, seltsame Verordnungen für Bauern und Glühbirnen, Verträge, die meine Großmutter als unmoralisch bezeichnet hätte. Wenn Altpolitiker sich engagieren für ein humanes Europa, weil ihre Kinder eine schandhafte Politik machen. Das soll Europa sein? Mein Europa?

Und dann stehe ich da, spreche mit einem Flüchtling und wir beide haben Tränen in den Augen, weil er seine Familie zurückgelassen hat und nicht weiß, wann er sie wiedersehen wird. Aber Familienzuzug wird durch Quoten geregelt, als ob es sich um ein Stück Ware handelt.

Mir macht es Angst, dass die Mindestsicherung für Flüchtlinge gekürzt wird. Wenn die Hetzer nicht wissen, dass sie nicht arbeiten dürfen, solange das Asylverfahren nicht abgeschlossen ist. Sie zur Untätigkeit gezwungen sind. Was wird aus Menschen, die nichts tun dürfen? Artikel 23. der Menschenrechte: Jeder hat das Recht auf Arbeit, auf freie Berufswahl, auf gerechte und befriedigende Arbeitsbedingungen. Menschenrecht, es gilt für alle. Und ich verstehe die Verzweiflung Arbeitsuchender, die sich mehrfach bedroht sehen, nicht nur von Flüchtlingen.

Nur zur Erinnerung: Österreich hat die Allgemeine Deklaration der Menschenrechte unterschrieben. Was ist das heute wert?

Denn dann reicht es nicht mehr zum Leben. Was ist, wenn nicht sofort ein Job gefunden wird? Was ist, wenn er oder sie Schwierigkeiten beim Lernen der Sprache hat?

Ich lese diese Deklaration und frage mich, was davon noch gilt. Ich schäme mich.

Sie zu lesen, ist ein Hohn. Sie sind in den letzten Jahren so eng ausgelegt worden, dass sie einfach nicht mehr stimmen. Sie werden nicht eingehalten, nicht von irgendwelchen fernen Ländern, nein von uns, den Wohlhabenden, die wir Angst haben vor Menschen, die nichts mehr zu verlieren haben. Wohl zurecht, wir führten sie dorthin. Menschenrechte, deren Gültigkeit so eng ausgelegt wird, dass ich inzwischen das Gefühl habe, sie nur mehr wie durch einen Spalt betrachten zu können. Die Menschenrechte waren immer schon mehr Ideal als Realität. Nun ist diese Realität für viele erstrebenswerter als das Ideal. Sie sind verzerrt, wie noch nie in meinem Leben zuvor. Ich schäme mich.

Dann erscheinen Institute und erklären uns, dass die Welt die Armut bekämpfte, weil heute nicht mehr so viele von 2 oder 3 Dollar täglich leben. Wie beschämend.

Und zugleich fühle ich mich hilflos, weil ich nicht weiß, was ich dagegen tun kann.

„Unsere Werte wie Menschlichkeit, Vielfalt, Solidarität und eine offene Gemeinschaft sind die stärksten Waffen gegen Gewalt und Terror“, erklärte der norwegische Ministerpräsident Jens Stoltenberg nach den Terroranschlägen von Oslo im Jahre 2011.

Wir haben keine offene Gesellschaft mehr. Die Menschlichkeit ist bei vielen geschrumpft. Vielfalt wird als Gefahr angesehen. Solidarität ist kein Prinzip mehr, sondern wird als Gutmensch-Attitüde abgetan.

Die größte Gefahr sind wir selbst.

Was nun?

Die Welt kann ich nicht retten, auch nicht Europa, Österreich oder die kleine Stadt, in der ich lebe. Aber ich habe darüber nachgedacht, was ich kann. Lange. Habe meine Kräfte betrachtet und meine Stärken. Ich bin ein Wörtermensch, ein Mensch, der gerne lernt, nicht in den traditionellen heiligen Hallen der Weisheit, aber begierig nach Wissen und Erkenntnissen ist.

Bildung ist nicht alles, aber es ist ein Versuch, eine bessere Welt zu ermöglichen. Ich will weg von irgendwelchen Hürden. Ich habe an Webseiten gedacht. Viele Seiten zur Lese- und Bildungsförderung richten sich an Pädagogen, oder mit erhobenen Zeigefinger an „Laien“, oder mit kindlich vorgetragenen Referaten an durchschnittliche Bürger. Den Zeigefinger lasse ich zuhause, ich versuche Menschen zu unterstützen, die kein abgeschlossenes einschlägiges Studium haben (so wie ich, ich bin keine Pädagogin). Wenn ich eine Mutter oder Vater bin, brauche ich keine Experten, die mir in ihren Aufsätzen erklären, wie wichtig lesen ist, damit ich vorlese. Auf der einen Seite wird beklagt, wie viel Verantwortung Eltern an Schulen und Kindergärten abgegeben wird, und zugleich erklären Experten in theoretischen Abhandlungen, was alles zu tun sei. Die Forderungen werden immer mehr und die Vogel Strauß Mentalität wächst, wie die Ansprüche des täglichen Lebens. Es wächst uns wohl alles, was wir sollen, über den Kopf.

Dieses Vorgehen, dass überall Experten erklären, wie die Welt sich dreht, hat Menschen entmündigt. Die Rechnung ist da, es werden Verantwortungen abgegeben.

Davon will ich weg. Manchmal habe ich ein schlechtes Gewissen, weil ich so gar nicht einschlägig ausgebildet bin, sondern „nur“ denken kann, aber es ist wohl meine Stärke.

Ich will nur wissen, was es etwas gibt, wo ich es bekomme, ob es eine Buchhandlung ist, eine Bücherei, oder Online, als ebook, als video oder anderes. Ich will das Vergnügen teilen, das ich empfinde, etwas zu lernen, ohne Pisa, Bologna oder mit hübschen Namen verzerrte Bildungsvorgaben. Ich brauche keine Experten, die mir erklären, warum es sinnvoll ist. Mir macht es einfach Spaß. Darum mache ich, was ich mache.

Nachdem die Daten der Lesefähigkeit der Kinder am Ende ihrer Volksschulzeit nun bekannt gegeben wurden, fühle ich mich bestätigt, in dieser Richtung weiter zu arbeiten. Ich finde die Schockreaktion der Politiker lächerlich, ich versuche zu handeln und nicht schockiert zu sein.

Das war die Basis für die Überlegungen, die zur Gründung der Webseiten leseorte.org und lesewelten.org.

Das kann ich tun und tu es.

und es geht weiter

8.4.2016: Die Regierung erklärt einen Notstand, wo ich nur die eine Not sehe, von einer solchen Regierung regiert zu werden: Novelle zur Aussetzung des internationalen Rechts schon vor einem „Notstand“ soll kommende Woche in den Innenausschuss und ohne Begutachtung in den Nationalrat – derstandard.at/2000034463023/Regierung-setzt-schaerferes-Asylrecht-im-Eiltempo-durch

14.4.2016 Vertrauliche EU-Dokumente belegen weitgehende Kooperationspläne mit ostafrikanischen Despoten in der Flüchtlingspolitik. Pläne sollten „unter keinen Umständen an die Öffentlichkeit gelangen“.

Die EU-Direktorin von Human Rights Watch, Lotte Leicht, kritisiert den Grundansatz dieser EU-Politik: „Es ist unglaublich zynisch, wenn die Europäische Union, die auf Werten basiert und die europäischen Regierungen, die sagen, dass ihnen die Menschenrechte etwas bedeuten, mit menschenverachtenden Regierungen zusammenarbeiten, nur mit dem Ziel, Menschen davon abzuhalten nach Europa zu kommen.“