Der Tag, an dem der Flügelschlag eines Schmetterlings mich umwarf

Meine Rech­nung scheint aufge­gan­gen zu sein. Ich wollte Altes ent­deck­en und nicht nur Außen auch Innen. Es war ok für mich, dass ich nicht mehr in die Tiefe gehen wollte, solange meine Mut­ter lebte. Es hat Zeit­en gegeben, da war ich so weit unten, dass ich nicht weit­er fall­en kon­nte. Mit ihrem Tod ist auch der Abschied von dieser Zeit gekommen.

Die Nächte brin­gen alte Erin­nerun­gen. Alte Äng­ste zeigen sich.

Ich bin nicht gut im Herum­stre­it­en. Ich bin aufgewach­sen mit Stre­its mein­er Eltern, die in ihrer Ver­gan­gen­heit lagen. Sie ver­wirrten mich. Es dauerte über 40 Jahre, bis ich erkan­nte, dass es nichts mit mir zu tun hat­te. In dieser Ver­wirrung liegt wahrschein­lich die Basis mein­er Reak­tion auf Streit. _MG_6506-001
Ob sie sich geän­dert hat, weiß ich nicht.

Bei Stre­its werde ich still und ziehe mich zurück, anstatt laut wie andere zu wer­den. Ich spreche von den inti­men, pri­vat­en Stre­its. Als Reife kann es nicht beze­ich­net wer­den. Es hat mehr mit Tot­stellen zu tun. Ich höre ein­fach zu existieren auf, ich wäh­le den Rück­zug. Meine Erfahrun­gen sind auch, als ich älter wurde, nicht hil­fre­ich gewe­sen. Während andere eine Reak­tion von mir woll­ten oder provozierten, wurde ich starr vor Schreck. Bis ich soweit gewe­sen wäre zu reagieren, waren die anderen schon ganz woan­ders. Ich brauchte Zeit, um mich zu ver­pup­pen, bis ich wieder soweit war, her­auskom­men zu kön­nen. Als ich wieder reden kon­nte, waren die anderen nicht mehr bere­it, mit mir zu sprechen. Und damit war ich wirk­lich tot. So hörte ich auf zu existieren. Irgend­wann suchte ich auch kein Gespräch mehr. „Mit dir kann man nicht ein­mal stre­it­en.“ hörte ich. Als dieser Men­sch aus meinem Leben ging, war ich mir mein­er Män­gel nicht so bewusst wie heute. Doch ich ahnte es. Ich fühlte meine Behinderung.

Begeg­net bin ich noch nie­man­dem (ich spreche hier von dem inti­men pri­vat­en Bere­ich — einem Part­ner), der mir den Raum und die Sicher­heit gab, meinem Tem­po zu fol­gen. Fra­gen “wer ich wirk­lich sei” bekam ich zu hören, oder Ver­gle­iche mit anderen wur­den gezo­gen, mit jenen mit denen man stre­it­en könne, im Gegen­satz zu mir. Ver­dammt, genau das war ich, diese Unfähige. Ich entsprach nicht den Bildern der anderen, des Rit­ters in strahlen­der Rüs­tung. Wie sehr ich dieses Bild has­se! Neben der laut­en Ruth gibt es noch eine sehr stille, sehr langsame, schüchterne. Die wollte nie­mand, nein, die, die man bewun­dern kon­nte, oder auch ver­acht­en, die war toll. Mit der starken Ruth wollte man kämpfen, während ich bei vielem stark bin, nur nicht im Zweikampf. Ich liebe diese andere, die, die kein­er sehen will.
Es macht mir auch Angst, nicht nur angeschrien zu wer­den, son­dern auch anderen beim Stre­it­en zuzuhören.

Selb­st jet­zt beim Schreiben bemerke ich mein Ein­frieren. Nicht nur Worte hören auf, aus mir zu fließen, mir wird auch kalt. Ich bin froh, dass es hier eine Heizung gibt.

Während jene, die ihre Gefüh­le laut rauss­chreien kon­nten, sich ihrer Wahrhaftigkeit sich­er waren und es ihnen von anderen auch ver­sichert wird, war meine Reak­tion eine unge­wohnte. Zeit musste bei mir verge­hen, bis die schlimm­ste Angst ver­gan­gen war. Mein Denken musste erst wieder zu laufen begin­nen. Wie soll ich jeman­den anschreien, wenn mein Hirn aufhört, sich zu regen? Da ist nichts, nichts zu sagen, nichts zu tun. Als ich mich dann endlich wieder bewe­gen kon­nte, war es für den anderen vor­bei. Und ich blieb allein.

Die Behin­derung ist so mas­siv, dass ich auch keine Erin­nerung an Stre­its habe. Ich weiß nicht mehr, was meine Eltern an mir kri­tisierten, was mich verzweifelt weg­fahren ließ. War es wirk­lich immer dieses, wie ich aus­sah, was ich anzog, was ich wog, warum so viel Zeit mit Fre­un­den ver­brachte? Und das wohlweißlich auch noch, als ich 40 wurde. Und als ich dann fuhr, ging man noch zu anderen und beschw­erte sich über mich, während ich jede Erin­nerung begrub.

Als ich endlich ein­mal meinen Zorn raus lassen kon­nte, hat­te ich auch keinen Erfolg damit. Ich weiß, dass meine Art, mit Ent­täuschung, mit Wut umzuge­hen, anders ist. Ich ver­suche mit 50 das zu ler­nen, was andere mit 2 zu üben beginnen.

Mein Rück­zug nahm anderen jede Angriffs­fläche. Bis ich soweit war, dass ich wieder sprechen kon­nte, war alles vor­bei. Ich löste mich auf. Kein­er wollte mit mir reden. Stre­it ist so etwas Intimes. Ich war nichts als Schall und Rauch. Ja, es macht mich trau­rig, dass es nie­man­den gab, der sich auf die Suche nach mir gab, dem ich wert genug war, mir in mein­er Zeit, in meinem Tem­po zu fol­gen. Muss ich mich wirk­lich ändern? Bin das dann noch ich, wenn ich rum­brülle, auch wenn mir nicht danach zumute ist? So ein blödes Geschwaf­fel über Authen­tiz­ität. Hier also liegt meine Wut über diesen Begriff begraben. Bin ich etwa authen­tisch, wenn ich so reagiere, wie andere es von mir erwarten?
Es macht mich wütend, Luft zu sein.

Ich habe keine Lust mich mit Men­schen auseinan­der zu set­zen, für die ich Luft bin. Oder wenn sie mich ins Winkerl stellen, wo ich über meine Schand­tat nach­denken kön­nte. Das hat bei mir nicht funk­tion­iert, als ich 5 war und auch nicht als ich 45 war. Ich bin kein bösar­tiger Men­sch, der absichtlich anderen weh tut. Es gibt Gründe, warum ich etwas tue und die erk­läre ich gerne. Wenn ein ander­er das missver­ste­ht, dann soll er’s mir sagen. Ich denke wirk­lich gerne darüber nach und ver­suche seine und meine Blick­winkel zu sehen und zu verstehen.

Dass ich mich in solche Sit­u­a­tio­nen, wo ich Luft werde, begeben muss, ist schlimm genug. So schnell kann ich gar nicht sein, wie ich dort weg will.

Eines habe ich gel­ernt, wenn ich bei Fre­un­den nicht so leise, so still, so langsam sein darf, wie ich es brauche, dann gehe ich. Ich sagte ein­mal, ich möchte etwas zu Ende sprechen, es aussprechen, etwas das mich schmerzte und mich in all mein­er Ver­let­zlichkeit traf. Ich sagte ein zweites Mal, dass ich etwas zu sagen hätte und kam nicht zu Wort, weil der andere es eilig hat­te, von sich zu sprechen. Als er mich ein drittes Mal unter­brach, war ich müde. So habe ich beim let­zten Mann, dem ich erlaubt habe, mir näher zu kom­men, gesagt: „Ich mag nicht mehr. Es ist mir zu anstren­gend.“ Nach dem ich ihn drei Mal gebeten hat­te, mich aussprechen zu lassen. Und er begann, mich zu beschimpfen, eine Woche lang. Bis ich unmissver­ständlich sagen kon­nte, geh weg. Dieser Mann sprach davon, so zart wie ein Schmetter­ling zu sein. Es war der Tag, an dem mich der Flügelschlag eines Schmetter­lings umwarf. Dass ich damit auch eine Fre­undin ver­lor, ahnte ich nicht. Doch ich war stolz, mir treu gewe­sen zu sein. Aber in dem Moment, wo ich wagte, so zu han­deln, wie ich es brauche, bezweifelte sie meine Authen­tiz­ität und warf mir unge­heuren Ego­is­mus vor. Es tut noch immer weh.

Es war das let­zte Mal, dass ich Kraft für so eine Auseinan­der­set­zung hatte.
Ich wollte die Kraft, die ich hat­te, nur für jeman­den ein­set­zen, der es mir wert war. Und das war in den ver­gan­genen Jahren meine Mut­ter. Die Energie für neue Exper­i­mente fehlte mir. Platz war zulet­zt nur mehr für Fre­unde, die mich, jed­er auf seine Art, auffingen.

Doch weil dies nicht genug ist, hole ich mir die Erfahrung der Nich­tex­is­tenz immer wieder in mein Leben. In lächer­lichen Momenten. Jene Stun­den, die mir per­sön­lich nicht so nahe gehen, wer­den dann plöt­zlich sehr intim. Da dachte ich, ich übe zu sagen, was mir wichtig ist. Irgen­dein sach­lich­es The­ma, in der Arbeit etwa, wollte ich benutzen, um meine Mei­n­ung zu vertreten, und ernte das Nichts. Als ob ich nie etwas gesagt hätte. Wieder löse ich mich in Luft auf. Schweigen als Antwort. Ich ver­sage kläglich, wahrgenom­men zu wer­den. Bei men­schen, die ich für meine Fre­unde hielt, hängt es mir dann Jahre nach. Und als Resul­tat frage ich mich, ergibt es über­haupt Sinn für mich, meine Bedürfnisse oder meine Gefüh­le zu äußern?

Ich bin allein.

Oft fragte ich mich, wie ich es schaffe, Luft zu sein. Ich mag nicht rum­brüllen müssen, um gehört zu wer­den. Außer­dem lernte ich, dass ich mich auch tobend aufzulösen beginne. Auch in diesen Momenten blickt man durch mich wie durch Luft.

Wäre ich mir nur weniger bewusst, wie lange es dauert, einan­der ver­traut zu machen, dann wäre es leichter. Keine Erfahrung, die ich machte, zeigte mir, dass ich so sein darf, wie ich bin, außer wenn ich alleine bin. Aber allein bin ich kaum wütend. Und vielle­icht würde dann diese Angst gehen. Vielle­icht würde ich nicht mehr erstar­ren. Deshalb füh­le ich mich so ganz ganz, wenn ich nur mit mir bin.

Ich spreche nie­man­dem ab, noch würde ich wollen, dass ein ander­er nicht stür­misch, wütend, alles um sich wer­fend ist. Lebt euren Zorn auf eure Weise, ich habe kein Prob­lem damit. Nur lasst mir meine Reak­tion eben­so, wie ich euch eure lasse. Vielle­icht irri­tiert es euch, wenn ich dann nur schaue. Aber ich kann in diesem Moment nicht mehr, ich bin bewe­gungs­los. Es ist Platz für vieles auf dieser Erde, lasst mir meinen, wie ich euch euren. Das wollte ich noch sagen.

So wie der eine unbe­herrscht nach Außen geht, gehe ich unbe­herrscht nach Innen. Wed­er das eine ist eine bewusst kon­trol­lierte Hand­lung, noch das andere. Vielle­icht werde ich sie ein­mal schneller im Griff haben, aber für jet­zt ist es genug, zu wis­sen, dass es so kom­men kann.

Schmun­zel­nd stelle ich ger­ade fest, dass ich die Hoff­nung nicht aufgegeben habe, dass ich wieder diese intime Nähe erfahre.

Das ist mein Reise­tage­buch in innere und äußere Wel­ten. Ich freu mich, dass ich diese Reise unternehme. Ich ahne nicht, wohin sie mich noch führen wird.

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